Nichts ist so umstritten wie das (Un)Glück des Alleinseins.
Was für den Künstler, Philosophen, Sinnsucher die Muße fördert, ja das Voranschreiten seiner Kunst regelrecht zu bestimmen scheint, ist für den Rest der modernen, westlichen Gesellschaft eher eine verpönte, bemitleidenswerte Angelegenheit. Alleinsein wird bewundert, verachtet, ausgelacht, bemitleidet, ignoriert, ausgegrenzt, herbeigesehnt... hab ich was vergessen? Verbringt ein Mann seine Zeit alleine, so umgibt ihn die Aura des romantischen, einsamen Eremiten. Zu beobachten bei Radfahrern, Rennradfahrern, Wanderern, Philosophen, Zeitunglesern in Cafés, usw. Verbringt eine Frau dagegen ihre Zeit allein, ist sie, womöglich ohne es zu wollen, von eine Aura umgeben à la Wechseljahre, Midlife-Crisis, Sinnsuche, armes Wesen, sture Person, hat keinen abbekommen, allein gelassen. Frau geht allein wandern und bekommt von einer anderen Frau, die ihren Ehemann dabei hat, zu hören: "An Ihrer Stelle wäre ich traurig. Ich verstehe nicht, wie Sie das aushalten. Suchen Sie sich doch einen Verein!" Die Wurzeln des Ganzen liegen mit Sicherheit einige Jahrhunderte in der Geschichte zurück und hängen mit so üblichen Dichotomien zusammen, wie Frau=quatschen, Unterhaltung, Austausch; Mann=Denker, Politiker, Eigenbrödler, Selbstbestimmung.
Aber mal abgesehen von Gender & co. ...wie gehen (Online-)Magazine mit dem Thema um? Manche betonen, Alleinsein mache krank. Unsozial. Schlecht für den Blutdruck. Man verlernt das Miteinander. Den ganzen Tag zu Hause sein und lesen, wie kann man nur. Andere Artikel wiederum, und das sind dann jede, die sich mehr auf einer spirituellen Ebene bewegen, argumentieren immer wieder mit dem 'Zu sich selbst finden'. 'Wie soll ich ohne Abstand zur Gesellschaft wissen, wer ich wirklich bin?' etc. Das führt zu der Grundsatzfrage: Worüber definiert sich der Mensch eigentlich? Wäre ich nichts, wenn mir niemand etwas zurückgäbe? Lege ich automatisch ein asoziales Verhalten an den Tag, nachdem ich 3 Wochen lang allein durch den Regenwald gewandert bin? Ok, so schnell geht es sicher nicht. Trotzdem frage ich mich: In welcher Intensität braucht ein Mensch seine Mitmenschen zur Entwicklung seiner Persönlichkeit?
Manche Menschen wollen das meiste mit sich selbst ausmachen. Der eigene Standpunkt, der eigene innere Dialog genügt. Die Grundsätze sind fest. Andere Menschen wiederum wollen vieles besprechen, Reflektion erfahren, sehen was zurückkommt, Meinungen einholen. Prüfende Betrachtung. Es ist wahrscheinlich anmaßend, zu behaupten, die einen wären besser als die anderen. Gesund ist wahrscheinlich ein gewisses Mittelmaß. Gesellschaft, Meinungen einholen. Alleinsein, reflektieren. Es muss beides geben. Was bei der ganzen Auseinandersetzung bzw. Verpöntheit, Gefahr für die Gesundheit etc. allerdings vergessen wird: Schon mal versucht, mit jemandem zusammen ein Buch zu lesen? (Bücher lesen ist bezeichnenderweise out...)
Abgesehen davon gibt es empfindlichere und weniger empfindliche Typen: Während der eine Mensch nach einem langen Arbeitstag eher auf -->Zerstreuung<--- setzt, sprich, am liebsten in der Stammkneipe abschaltet; schwört der andere Mensch nach einem langen Tag eher auf ein -->sich sammeln<-- was eigentlich nur allein funktioniert. Oder im Meditationskurs. Abschalten bedeutet nicht für alle Menschen das Gleiche, was die Gefahren des Alleinseins schon ein bisschen relativiert, bzw. vielleicht sogar umkehrt. Mensch A entspannt auf dem Rockkonzert. Mensch B bekäme davon einen noch höheren Blutdruck bzw. Stress und schwört stattdessen auf einen Abend in einer Bar.
Vielleicht tickt das menschliche Hirn, Geist, Seele, Kopf ein bisschen wie die Festplatte eines Computers: Wenn man nicht ab und zu ein bisschen defragmentiert / aufräumt, wird alles langsamer und langsamer, und endet schließlich im Chaos. Allerdings sollte man sich auch nicht all zu sehr mit dem Aufräumen beschäftigen. Ein bisschen Leerlauf ist auch manchmal schön. Ein bisschen von allem halt. Ohne den Zwang, ständig dabei sein zu müssen.